Für das soziale Miteinander ist es wichtig, die Gedanken und Gefühle anderer Menschen und ihre Ursachen zu erkennen. Diese Fähigkeit hilft, andere Menschen und ihr Verhalten besser zu verstehen, Kontakte zu knüpfen und bei Konflikten gemeinsam Lösungen zu finden. Kinder müssen diese Fähigkeiten erst entwickeln. Dabei können Eltern, Großeltern und andere Bezugspersonen sie im Alltag in Unterhaltungen und auch spielerisch unterstützen.
Was heißt Theory of Mind und was hat es mit Gedankenlesen zu tun?
Wie schön wäre es manchmal, wenn wir in die Köpfe anderer Menschen schauen könnten! Wenn wir verstehen, was Menschen fühlen, denken und wissen, können wir unser Verhalten daran anpassen. Wir können die Ursachen erkennen, warum jemand traurig, begeistert oder wütend ist und zum Beispiel bei einem Streit eine gute Lösung für beide Seiten finden.
Zwar haben wir keinen direkten Einblick in die Innenwelten anderer Menschen, aber zum Glück können wir alle ein bisschen Gedanken lesen!
Wir können zum Beispiel an den Gesichtern der Menschen ihre Gefühle erkennen und haben Wörter oder Gebärden dafür, um uns darüber auszutauschen. Wir können über die Ursachen für Gefühle nachdenken. Wir erkennen zudem, dass andere Menschen über andere Überzeugungen verfügen als wir selbst, da sie einen anderen Zugang zu Informationen haben als wir.
Diese Fähigkeiten, zwischen den Innenwelten von Anderen und unserer zu unterscheiden und Hypothesen über die Gedanken und Gefühle der Anderen aufzustellen, nutzen wir jeden Tag – bewusst oder unbewusst – im Kontakt mit unseren Mitmenschen.
Die Wissenschaft nennt diese Fähigkeiten „Theory of Mind“. Dazu gehört auch die Kompetenz, die eigenen Gefühle und die Gefühle anderer Menschen zu erkennen und zu verstehen („Emotionswissen“).
Kinder erwerben in der Regel Theory of Mind-Fähigkeiten im Vor- und Grundschulalter. Wer gut im „Gedankenlesen“ ist, kann:
- die Gefühle anderer erkennen und benennen (ab 3.–4. Lebensjahr).
- die äußere Auslöser und Ursachen von Gefühlen erkennen (ab 3.–4. Lebensjahr).
- verstehen, dass Erinnerungen Gefühle auslösen können (ab 3.–6. Lebensjahr).
- verstehen, dass Wünsche Gefühle auslösen können und erkennen, dass verschiedene Menschen unterschiedliche Wünsche haben können (ab 3.–5. Lebensjahr).
- verstehen, dass Menschen unterschiedlich viel wissen und deshalb andere – und vielleicht manchmal auch falsche – Überzeugungen haben können (ab 4.–6. Lebensjahr).
- verstehen, dass Menschen ihre eigentlichen Gefühle verstecken können (ab 4.–6. Lebensjahr).
- Strategien anwenden, um die eigenen Gefühle zu kontrollieren (ab. 6.–8. Lebensjahr).
- verstehen, dass Menschen in einer Situation zwei oder mehr Gefühle gleichzeitig, also gemischte Gefühle haben können (ab 8. Lebensjahr).
- erkennen, dass moralische Werte und Erwartungen Gefühle beeinflussen können (ab 8. Lebensjahr).
Kinder entwickeln diese Fähigkeiten unterschiedlich schnell. Grundlage für den Erwerb ist der Austausch mit anderen Menschen. Deshalb ist es besonders wichtig, dass Kinder und ihre Mitmenschen eine gemeinsame Sprache haben.
Für gehörlose und schwerhörige Kinder besteht das Risiko, Theory of Mind-Fähigkeiten langsamer zu entwickeln. Ein Grund ist, dass sie erst verzögert eine Laut- oder/und Gebärdensprache lernen und weniger Möglichkeiten zur Kommunikation mit anderen Menschen in ihrem Umfeld haben. Es ist deshalb sinnvoll, sie in der Schule und auch zuhause im Alltag dabei zu unterstützen.
Woran kann ich erkennen, was mein Kind schon kann?
Wenn Sie sich mit Ihrem Kind unterhalten und sein/ihr Verhalten im Alltag beobachten, können Sie einen Eindruck bekommen, was Ihr Kind schon alles kann. Wir geben Ihnen hier ein Beispiel dafür:
„Die Mathearbeit“
Diese Theory-of-Mind Fähigkeiten können wir bei Marco beobachten:
Marco erkennt die Gefühle von Ben und kann diese benennen. Außerdem erkennt er den Auslöser für Bens Gefühle.
Marco versteht, dass er selbst gemischte Gefühle haben kann.
Er verbirgt seine Freude absichtlich, um Rücksicht auf die Gefühle von Ben zu nehmen. Er verfügt damit über Strategien, die eigenen Gefühle zu kontrollieren und sein Verhalten an die Gefühle seiner Mitmenschen anzupassen.
Marco versteht, dass Ben vor den anderen Kindern seine Gefühle lieber verstecken möchte. Deshalb widerspricht er Ben nicht.
Wie kann ich Gedankenlesen bzw. Theory of Mind zuhause unterstützen?
Die gute Nachricht ist: Gedankenlesen lässt sich üben!
Fragen Sie doch einmal bei den Pädagog:innen oder Lehrer:innen Ihres Kindes nach, ob sie das Gedanken-Lesen schon im Kindergarten oder in der Schule üben. Unser Trainingsprogramm DIE GEDANKENLESER, das Sie auf dieser Webseite finden, unterstützt die Pädagog:innen und Lehrer:innen dabei. Es liefert ihnen Übungen und Materialien, die in der Klasse, in Kleingruppen oder in der Einzelförderung eingesetzt werden können.
Auch Sie zuhause können etwas tun – und das ganz nebenbei. Klicken Sie auf die Tipps, um zu den Beispielen zu gelangen.
Sprechen/gebärden Sie mit Ihrem Kind im Alltag über Gefühle und Gedanken.
Erzählen Sie Ihrem Kind, wie Sie sich fühlen und was Sie denken:
„Ich wünsche mir so sehr, dass unsere Fußballmannschaft heute gewinnt!“
„Ich freue mich riesig, dass du beim Tisch decken geholfen hast.“
„Mich ärgert es, dass ich die Tomaten beim Einkaufen vergessen habe!“
„Ich freue mich sehr auf unseren Urlaub. Aber es macht mir auch viel Stress, alle Koffer zu packen.“
Zeigen Sie Ihrem Kind, wie Sie mit Ihren Gefühlen und Gedanken umgehen:
„Ich bin gerade so wütend, ich nehme mir jetzt erstmal ein wenig Zeit und trinke einen Tee, um mich zu beruhigen.“
„Ich bin glücklich, dass ich dich habe. Lass dich drücken.“
„Ich werde lieber nicht vom 3-Meter-Turm springen, denn ich habe Angst. Ich bleibe lieber im Liegestuhl liegen und schaue den anderen zu.“
Melden Sie Ihrem Kind ihre/seine Gefühle zurück, so dass Ihr Kind sie besser erkennen und verstehen kann:
„Ich glaube, dass du aufgeregt bist, weil Du morgen einen Test schreibst. Stimmt das?“
„Ich weiß, wie gern du diese Geschichte magst. Komm, ich lese sie dir vor.“
„Kann es sein, dass du traurig bist? Warum? Liegt es daran, dass Du Dich mit deiner Freundin / deinem Freund gestritten hast?“
„Ich sehe an Deinem Gesichtsausdruck, dass du wütend bist. Komm, wir reden darüber.“
Erklären Sie Ihrem Kind mögliche Ursachen und Auslöser für Gefühle:
„Ich verstehe, dass du enttäuscht bist. Ich hatte mich auch auf den Spielplatzbesuch gefreut und jetzt regnet es.“
„Schön, dass du dich so sehr über dein Geschenk freust.“
„Verständlich, dass du vor der Prüfung aufgeregt bist. Du schaffst das!“
Nehmen Sie Ihr Kind mit allen Gefühlen an – jedes Gefühl ist für die Entwicklung Ihres Kindes wichtig:
„Es ist in Ordnung, dass du wütend bist. (Das wäre ich auch.)“
„Du bist gerade sehr aufgebracht, wollen wir uns erstmal setzen?“
Geben Sie Ihrem Kind Zeit und begleiten Sie es bei seinen Gefühlen:
„Möchtest du auf meinen Schoß? Weine dich ruhig aus, ich bin für dich da.“
„Nimm dir ruhig deine Zeit in deinem Zimmer und reagiere dich ab. Wenn du reden möchtest, bin ich da.“
„Vielleicht möchtest du eine Freundin/einen Freund besuchen und darüber sprechen/gebärden, wie es dir geht?“
Nutzen Sie die Werbepause beim Fernsehen und unterhalten Sie sich mit Ihrem Kind über das Innenleben der Charaktere:
„Was glaubst du, wie es … jetzt geht?“
„Was denkst du, warum … sich so verhalten hat?“
„Hättest du genauso reagiert wie … ?“
„Was meinst du, wünscht sich…?“
„Ich bin neugierig, was als Nächstes passiert. Was denkst du?“
Fragen Sie Ihr Kind nach dem Kindergarten/der Schule, was es erlebt hat und wie es sich damit fühlt:
„Wie war es in der Schule?“
„Was war das Schönste, was du heute erlebt hast?“
„In welchem Fach hattest du heute besonders viel Spaß?“
„Was glaubst Du, warum Ihr Euch gestritten habt?“
Verwenden Sie dabei eine vielfältige Sprache, damit Ihr Kind neue Vokabeln kennenlernen kann.
Benutzen Sie verschiedene Ausdrücke für Gefühle – es gibt viel mehr Wörter und Gebärden als nur „lieb“ und „böse“:
„Du bist sicher froh/stolz/erleichtert, dass du dich in Englisch so verbessert hast, oder?“
„Ich bin begeistert/überrascht, wie tapfer du heute warst!“
„Es war sehr fair/ehrlich/aufrichtig von Dir, dass du die gefundene Geldbörse wieder abgegeben hast.“
„Du bist heute so nachdenklich/abwesend/verträumt, beschäftigt dich etwas?“
„Ich bin dankbar, ein so herzliches/nettes/hilfsbereites Kind wie dich zu haben!“
„Bist du zufrieden/glücklich mit deinem Bild?“
„Das braucht dir nicht peinlich zu sein/Du musst Dich nicht schämen, das ist völlig normal.“
Wenn Sie mit dem Kind mehrere Sprachen verwenden, unterhalten Sie sich in allen Sprachen über Gefühle und Gedanken:
Hilfreiche Vokabeln in Gebärdensprachen finden Sie hier.
Viele Spiel- und Vorlesesituationen bieten sich an, um Innenwelten von anderen Menschen zu besprechen.
Spielen Sie Rollenspiele mit Ihrem Kind und besprechen Sie dabei Wünsche, Wissen und Gefühle der verschiedenen Figuren:
Rollenspiel z. B. mit Puppen/Stofftieren:
„Weißt du, was ich mir zum Geburtstag wünsche?“
„Nein, was denn?“
„Eine Feier mit all meinen Freunden!“
„Warum das denn?“
„Na, weil es riesigen Spaß macht, mit allen zu feiern und zu spielen. Das wäre wirklich schön.“
„Verstehe! Ja, das wäre schön. Wir könnten Torte essen und Verstecken spielen.“
„Ich weiß, wo wir Süßigkeiten finden, komm mit!“
„Aber da dürfen wir doch nicht einfach so ran, sagt Mama.“
„Ist doch egal, das merkt Mama doch gar nicht.“
„Aber wenn sie herausfindet, dass wir am Süßigkeitenfach waren, gibt es Ärger.“
„Wir machen das heimlich. So weiß sie nicht, dass wir genascht haben!“
Lesen Sie mit Ihrem Kind Bücher, Comics o.ä., vor und besprechen Sie gemeinsam die Gefühle und Gedanken der Figuren gemeinsam:
„Was denkst Du, hat …. Angst?“
„Warum hat … solche Angst?“
„Was könnte … machen, damit er/sie nicht mehr solche Angst hat?“
„Ich finde die Geschichte wirklich spannend. Wie gefällt Dir die Geschichte“
„Glaubst du, dein bester Freund/deine beste Freundin … würde sich über dieses Buch als Geburtstagsgeschenk freuen?”
Eine Liste mit Empfehlungen zu Büchern und Gesellschaftsspielen sowie weiteren Übungsideen finden Sie hier.
Dieser Text ist in der Zusammenarbeit mit Studierenden der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden. Wir danken Violeta Blahusch, Sebastian Fitting, Rebekka Kreisel, Hannah Irene Riesenberg und Shary Teichert.