Bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern besteht das Risiko, dass sie im Vergleich zu hörenden Kindern eine deutliche Verzögerung in der Entwicklung der Theory of Mind aufweisen. Ein Grund dafür ist, dass sie weniger Möglichkeiten für sprachliche Interaktionen mit anderen Menschen haben. Ein Training zur Theory of Mind kann sie präventiv oder interventiv in ihrer Entwicklung unterstützen.
Der Zusammenhang von Sprachentwicklung und Theory of Mind
Die Entwicklung von Theory of Mind hängt eng mit dem Spracherwerb zusammen. Wichtige Motoren für den Erwerb von Theory of Mind-Kompetenzen sind das Beherrschen von Wörtern und/oder Gebärden für mentale Konzepte und Gefühle und von komplexen syntaktischen Strukturen. Eine Voraussetzung ist auch, an vielfältigen Gesprächen mit unterschiedlichen Menschen teilnehmen zu können. Dafür sind eine allgemeine Sprachkompetenz und eine gute Qualität der Kommunikation in der Familie, im Kindergarten oder in der Schule wichtig. Dazu gehört zum Beispiel, dass sich Eltern und Pädagog:innen mit den Kindern über die Innenwelten und Gefühle anderer Menschen unterhalten.
Risiken für die Entwicklung von Theory of Mind bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern
Gehörlose und schwerhörige Kinder laufen besonders Gefahr, in der Entwicklung von Theory of Mind-Kompetenzen viele Jahre im Vergleich zu hörenden Gleichaltrigen zurückzuliegen. Das gilt sowohl für lautsprachlich als auch für gebärdensprachlich kommunizierende Kinder. Der Spracherwerb (gesprochene Sprache und/oder Gebärdensprache) kann bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern erschwert sein und erfolgt unter Umständen verzögert. Damit kann auch die aktive und passive Teilnahme an sprachlichen Interaktionen eingeschränkt sein.
Die Forschung hat verschiedene Risiken bei der Theory of Mind-Entwicklung im Kontext einer Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit festgestellt.
Erkenntnisse aus der Forschung
Bei einer Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit besteht eine besondere Gefahr der Verzögerungen in der Theory of Mind-Entwicklung.
In vielen Ländern hat die Forschung gezeigt, dass hörende Kinder typischerweise Theory of Mind-Kompetenzen zwischen dem dritten und neunten Lebensjahr entwickeln (Wellman et al. 2018). Gehörlose und schwerhörige Kinder durchlaufen zwar die gleichen Entwicklungsstufen in der Theory of Mind wie hörende Kinder, allerdings kann das Entwicklungstempo bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern wesentlich langsamer sein (Wellman, 2018; Antonopoulou et al., 2016; Becker et al., 2018).
Auch die Entwicklung von Emotionswissen kann bei einer Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit verzögert verlaufen.
- Gehörlose und schwerhörige Kinder können im Vergleich zu hörenden Gleichaltrigen Schwierigkeiten haben, Emotionen richtig zu erkennen, sie genau zu benennen, zu verstehen und zu regulieren (Aviner, 2009 ).
- Hosie et al. (1998) zeigten, dass gehörlose und hörende Kinder ein gemeinsames konzeptuelles Verständnis von grundlegenden Emotionen (Freude, Traurigkeit, Wut und Überraschung), wie sie mit Hilfe von Mimik ausgedrückt werden, haben. Gehörlose und schwerhörige Kinder waren im Vergleich zu hörenden Kindern besser im Benennen von Angst, aber schlechter im Benennen von Ekel.
- Die Studie von Hosie et al. (2000) ergab, dass das Verbergen von eigenen Emotionen, um die Gefühle anderer zu schützen, für gehörlose und schwerhörige Kinder besonders schwierig war und brachten dies mit Problemen in der Theory of Mind-Entwicklung in Verbindung.
- Wiefferink et al. (2012) verglichen die Emotionsregulation bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern. Trotz früher Cochlea-Implantation zeigten die gehörlosen Kinder weniger adäquate Emotionsregulationsfähigkeiten und weniger soziale Kompetenz als hörende Gleichaltrige. Die Forscher:innen führten dies auf die Tatsache zurück, dass ihre Eltern in der Kommunikation mit ihren Kindern nicht ausreichend Gefühle aktiv benennen und Strategien zur Gefühlsregulation aufzeigen.
Der Modus, die Quantität und Qualität der Kommunikation in der Familie spielt eine Rolle bei der Theory of Mind-Entwicklung schwerhöriger und gehörloser Kinder.
- Gehörlose und schwerhörige Kinder mit hörenden Eltern haben ein besonders erhöhtes Risiko, Theory of Mind verzögert zu entwickeln (Schick et al., 2002). Kinder aus gehörlosen Familien, die eine Gebärdensprache schon sehr früh im Leben auf natürliche Art und Weise erwerben, erwerben Theory of Mind in der Regel nach demselben frühen Zeitplan wie hörende Kinder und erzielen bessere Ergebnisse bei Aufgaben zur Theory of Mind als gehörlose und schwerhörige Kinder von hörenden Eltern (Peterson & Siegal, 1999; Peterson et al., 2005; Schick et al., 2007). Allerdings schneiden gehörlose und schwerhörige Kinder, die mit ihren hörenden Eltern gebärden, besser ab als solche, die nur Lautsprache verwenden (Courtin, 2000; Courtin, & Melot, 1998). Grundsätzlich können auch Kinder, die mit ihren Eltern lautsprachlich kommunizieren, altersangemessen Theory of Mind entwickeln. Entscheidend ist allerdings, ob die Kinder die Sprache, die die Eltern verwenden, gut wahrnehmen können.
- Forscher:innen haben herausgefunden, dass die Entwicklung der Theory of Mind bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern mit der Quantität und Qualität der Kommunikation in der Familie während des Kindesalters zusammenhängt (Peterson et al., 2012). Die Forschung hat zum Beispiel gezeigt, dass auch lautsprachkommunizierende Kinder auch mit Cochlea-Implantaten in Aufgaben zur Theory of Mind schlechter abschneiden als hörenden Kindern (Peterson, 2004; Moeller, & Schick, 2006; Ketelaar et al., 2012). Knoors & Marschark (2014, s. auch Lecciso et al, 2012) vermuten deshalb, dass aufgrund der erschwerten Kommunikationsbedingungen in der familiären Kommunikation weniger Gespräche über mentale Zustände anderer Menschen stattfinden.
Die allgemeine Sprachkompetenz, die Entwicklung des Vokabulars und bestimmter syntaktischer Kompetenzen kann den Theory of Mind-Erwerb bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern beeinflussen.
- Einige Studien haben einen Zusammenhang zwischen allgemeinen Sprachkenntnissen und Theory of Mind-Fähigkeiten bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern gezeigt (z.B. Hao, Su, & Chan, 2010).
- Das Beherrschen von komplexen Sätzen mit Verben des Sagens, Denkens und Wünschens spielt dabei eine besondere Rolle (Schick et.al., 2007; Becker et al., 2018). Kinder, die nicht in der Lage sind, diese komplexen syntaktischen Formen zu verstehen oder zu produzieren, haben Schwierigkeiten zu begreifen, dass sich ihre eigenen Gedanken und Überzeugungen von denen anderer unterscheiden und diese auch falsch sein können. Wenn ein Kind aber zum Beispiel Sätze wie „Die Mutter dachte, der Kuchen sei im Schrank.” verstehen kann, kann es auch begreifen, dass die Mutter den Schrank öffnet, um den Kuchen herauszuholen – auch dann, wenn das Kind selbst gesehen hat, dass der Vater den Kuchen schon auf den Tisch gestellt hat.
- Studien haben auch gezeigt, dass das Beherrschen von mentalen Verben (d.h. „denken“, „wissen“, „glauben“ etc.) zur Verbesserung der Theory of Mind bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern beiträgt (Remmel & Peters, 2009; Becker et al., 2018).
Trainierbarkeit von Theory of Mind
Die Fähigkeit, sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen und die Ursachen für die eigenen Emotionen und Überzeugungen und die anderer zu verstehen, ist eine zentrale Voraussetzung zum Beispiel für Selbstregulierung, Konfliktlösungsfähigkeit und kritisches Denken. Entwicklungsverzögerungen in der Theory of Mind können daher die soziale Integration einschränken.
Aus diesen Gründen ist es von enormer Bedeutung, Präventions- und Interventionsmaßnahmen für diese sozial-kognitiven Fähigkeiten in Frühförderung, Kindergarten und Schule zu integrieren.
Glücklicherweise hat die Forschung gezeigt, dass richtig konzipierte Interventionsprogramme Theory of Mind bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern trainieren können.
Es hat sich gezeigt, dass die folgenden Methoden besonders hilfreich sind:
- Das Vorlesen von Geschichten mit mentalem Vokabular und das Stellen von Fragen sowie Diskussion über den Inhalt in Gruppen
- Soziodrama/Rollenspiel
- Gedankenblasen-Geschichten mit visueller Darstellung dessen, was Menschen denken
- Spiele und Sprachübungen zur Benennung von Emotionen und syntaktischen Strukturen
- Information und Vorbereitung von Lehrer:innen und Pädagog:innen zur Förderung der Theory of Mind.
In unserem Trainingsprogramm DIE GEDANKENLESER haben wir deshalb diese verschiedenen Methoden vereint.
Weiterführende Literatur
Antonopoulou, A., Hadjikakou, K., Stefanidou, M., & Maridaki-Kassotaki, K. (2016). The role of emotional literacy experiences in deaf/hard of hearing and hearing preschoolers’ social understanding and emotion comprehension. CD Proccedings of the 24th FEAPDA Congress: Inclusion and what it means for deaf education. Luxemburg. 20-22 October.
Becker, C., Hansen, M. & Barbeito Rey-Geissler, P. (2018). Narrative Kompetenzen hörgeschädigter Kinder. Das Zeichen, 108, 90-105.
Courtin, C. & Melot, A. (1998). Development of theories of mind in deaf children. In: M. Marschark & M. Clark (Eds), Psychological perspectives on deafness, Vol 2 (79-102). Lawrence Erlbaum Associates Publishers.
Courtin, C. (2000): The impact of sign language on the cognitive development of deaf children: the case of theories of mind. Journal of Deaf Studies and Deaf Education 5 (3), 266–276.
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Hosie, J., Russell, P., Gray, C., Scott, C., Hunter, N., Banks, J. & Macaulay, M. (2000). Knowledge of display rules in prelingually deaf and hearing children. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 41 (3), 289-298.
Ketelaar, L., Rieffe, C., Wiefferink, C. H. & Frijns, J. H. M. (2012). Does hearing lead to understanding? Theory of mind in toddlers and preschoolers with cochlear implants. Journal of pediatric psychology, 37 (9), 1041–1050.
Knoors, H. & Marschark, M. (2014). Teaching deaf learners: Psychological and developmental foundations. Oxford University Press.
Lecciso, F., Petrocchi, S., & Marchetti, A. (2012). Hearing mothers and oral deaf children: An atypical relational context for theory of mind. European Journal of Psychology of Education, 28, 903-922.
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Wellman, H. M. (2018). Theory of mind: The state of the art. European Journal of Developmental Psychology, 15(6), 728-755.
Wiefferink, C. H., Rieffe, C., Ketelaar, L. & Frijns, J. H. M. (2012). Predicting social functioning in children with a cochlear implant and in normal-hearing children: the role of emotion regulation. International journal of pediatric otorhinolaryngology, 76 (6), 883–889.
Hier finden Sie weiterführende Publikationen zu Theory of Mind und Emotionswissen: Publikationsliste.